Jesus, Tiberius und der schwarze Freitag

Angefangen hatte alles am Morgen zuvor. Den hatte sich Tiberius ganz anders vorgestellt. Ruhiger hätte er sein müssen, immerhin hatte Tiberius vom Hauptmann ein freies Wochenende genehmigt bekommen – und das, obwohl das Passahfest anstand, der größte jüdische Feiertag. Und an diesem unverhofft freien Wochenende wollte Tiberius abschalten, seine Familie wiedersehen, endlich wieder Zeit mit seinem Sohn und seiner kleinen Tochter verbringen.

Seit seinem letzten freien Tag waren nun schon sechs Wochen vergangen – sechs Wochen „Luxus-Schinderei“, wie die Soldaten immer mit Galgenhumor scherzten, um auf diese Weise von ihren erbärmlichen Arbeitsbedingungen abzulenken – fernab der römischen Heimat, umgeben von einem Volk, das sich wenig sehnlicher wünscht, als die Leiche eines verhassten römischen Soldaten per Schiffskurier zurück nach Rom zu schicken.

Tiberius hatte in seinen bald acht Jahren Dienst noch keinen einzigen Soldaten getroffen, der sich freiwillig nach Jerusalem versetzen ließ. Aber viele, die das Land bei der erstbesten Gelegenheit wieder verlassen hatten – im besten Fall lebendig.

Schon oft hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinen Dienst zu quittieren – besonders, wenn er wieder zum Latrinendienst verdonnert worden war oder dazu mit irgendeinem israelitischen Halsabschneider die Steuern einzutreiben.

Auch sonst gab es nicht viel, auf das er stolz sein könnte. Eigentlich wollte er Rom, sein Vaterland, an irgendeiner Grenze gegen den Feind verteidigen. Stattdessen hatte man ihn in diese Einöde versetzt, in der nur eines schlimmer war als das Wetter: die Bestialität der römischen Soldaten.

Immer, wenn er daran dachte, Teil dieses Systems zu sein, verfluchte er sich und die Welt – wenn doch nur seine Familie nicht so sehr auf seinen Sold angewiesen wäre!

Daher blieb ihm oft nicht viel mehr, als von einer besseren Zukunft zu träumen – oder zumindest von einem freien Wochenende, wie eben um dieses Passahfest herum. Er hätte im Boden versinken können, als es abends nach Sonnenuntergang, an seiner Tür geklopft hatte … er wusste, was das bedeutete: „Sonderauftrag vom Hauptmann!“

Und da stand er dann, verschlafen in diesem Garten, der nachts in seiner Farblosigkeit so gar nichts Einladendes an sich hatte. Aber das hatte Tiberius schon dutzende Mal erlebt, das konnte so einen gestandenen Mann wie ihn nicht aus der Ruhe bringen … Doch dieses Mal war etwas anders. Etwas, das ihm ein flaues Gefühl im Magen bereitete. Ihm hallten die Worte des Hauptmannes noch nach, mit denen er hierher geschickt worden war. „Jupiter, steh uns bei!“ – war es Tiberius’ da herausgerutscht, „die wollen doch tatsächlich Jesus von Nazareth verhaften!“ Ihm schwante Böses … „Das wird kein gutes Ende nehmen!“

Jesus – dieser Name war ihm in letzter Zeit häufiger begegnet … und immer gab es Ärger, immer wurde lauthals diskutiert, geschimpft, wahlweise flogen dabei Äpfel, Steine und Fäuste … und immer mussten die römischen Soldaten für Ruhe sorgen, die Buhmänner spielen, ihr Leben riskieren, um die Meute zu beruhigen.

Tiberius war wahrlich kein Experte für den jüdischen Glauben, aber eines hatte er verstanden: Für die führenden Priester war dieser Typ ein rotes Tuch – und für seine Anhänger der Messias. Da würde so eine von oben inszenierte Nacht- und Nebelaktion die Gemüter garantiert zum Kochen bringen … zumal bei den Israeliten eh alles, was das Thema Religion betraf, hochemotional besetzt war. Und jetzt sollte dieser Jesus von Nazaret in der Nacht vor dem Passahfest, dem größten jüdischen Fest, verhaftet werden? „Das gibt Mord und Totschlag – Jupiter steh uns bei!“, dachte Tiberius.

Je länger er diesen Gedanken bewegte, desto kälter lief es ihm den Rücken runter – und so ging es nicht nur ihm, sondern augenscheinlich jedem in der Gruppe: den anderen Soldaten, die kein Wort miteinander wechselten; den Gerichtspolizisten, deren Schweißperlen das Fackellicht spiegelten; und vor allem dem Typ da vorne, der sie zu Jesus führen sollte und mit jedem Schritt langsamer wurde…

Ein Anhänger von diesem Jesus sollte das sein, irgendwas mit Judas … Und jetzt liefert er seinen eigenen Anführer aus … „Ave, Cäsar, was für ein Verräter!“ Wären sie heute nicht auf ihn angewiesen, hätten ihn die anderen Soldaten schon längst an der eigenen Haut erhängt!

Der Gedanke, auf so einen Verleumder angewiesen zu sein, gefiel Tiberius nicht. Und so mischte sich in die Angst, gleich einer Gruppe fanatischer Juden zu begegnen, auch ein bisschen Mitleid für diesen Jesus. Was das wohl für ein Mann ist? Man hörte ja die unglaublichsten Geschichten über ihn. Ein Heiler soll er sein, ein Heiliger, ein Prophet, ein Lehrer, der Sohn Gottes – oder doch nur ein gewöhnlicher Zimmermann?

Sein Name war zuletzt in aller Munde. Sogar unter den Soldaten erzählte man sich Geschichten über ihn: Er hat Blinden das Augenlicht wiedergegeben, Taube wieder hören lassen, Krüppel gesund gemacht. In Kafarnaum soll er einmal sogar den Diener eines römischen Hauptmanns geheilt haben – ohne ihn auch nur einmal zu sehen.

Tiberius wurde es ganz warm ums Herz. Ein Jude, der einem Römer hilft!? Das kann kein schlechter Mensch sein! Aber wer tut all solche Sachen? Wer ist dieser Jesus?

Tiberius wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen: „Halt!“, rief einer der Soldaten. Ein schneller Blick um sich herum … Was ist los? Oh … da … Instinktiv griff Tiberius nach seinem Schwert. Mit einem Mal spürte er seinen Puls … Aus dem Dunkel der Nacht näherte sich ein Mann. … „Beim Mars, gleich geht es los!“

„Wen sucht ihr?“, fragte der Mann. „Jesus von Nazareth.“, sagte einer der Gerichtspolizisten.

„Ich bin’s!“

‚Wie bitte?! Er stellt sich? Freiwillig?‘ Mit allem hatte Tiberius gerechnet, aber nicht damit, nicht mit so einer Furchtlosigkeit, Ruhe, Ehrlichkeit. Vor Schreck trat er genauso wie die ganze Truppe einen Schritt zurück.

Der Mann fragte noch einmal: „Wen sucht ihr?“ „Jesus von Nazareth.“

„Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Und wenn ihr mich sucht, dann lasst diese hier gehen.“

‚Diese hier?‘ Erst jetzt erkannte Tiberius, dass der Mann nicht alleine war. Um ihn herum stand fast ein Dutzend anderer Männer, einige mit Schwertern in der Hand … Aber das machte Tiberius komischerweise keine Angst.

Vielleicht lag es daran, dass sie genauso regungslos dastanden wie seine eigenen Leute ‑ zu Salzsäulen erstarrt. Keiner bewegte sich, keiner sagte ein Wort – für einen Augenblick hörte man nur friedliche Nachtgeräusche, das Rascheln der Blätter, als ob die Zeit still stände.

Alle schauten auf den unbewaffneten Mann im weißen Gewand., Er schien die Situation voll unter Kontrolle zu haben. Und so dunkel es auch war, Tiberius sah etwas, das er vorher noch nie bei einem Menschen gesehen hatte – dieses Funkeln in den Augen, diese Sicherheit, diese Autorität.

‚Der Typ weiß genau, was auf ihn zu kommt … aber er läuft nicht weg wie ein Feigling. Nein, er geht darauf zu. Warum? Warum tut jemand so was? Ist ihm sein Leben nicht lieb‘, fragte sich Tiberius: ‚Ist das wirklich dieser Jesus, von dem man sich all die Geschichten erzählt!?

Aus einem unerklärlichen Grund schämte sich Tiberius plötzlich, hier schwer bewaffnet angerückt zu sein. ‚Dieser Mann ist kein Verbrecher!‘ Und trotzdem würden sie ihn verhaften müssen, wenn dieser Judas-Typ seine Identität bestätigte: ‚Warum lässt der sich so viel Zeit?‘

Tiberius kam es vor wie eine Ewigkeit, bis Judas sich endlich ein Herz fasste und auf den Mann zuging, ihm einen Begrüßungskuss gab. Das war das Zeichen! Das da war Jesus! ‚Zugriff, Zugriff!‘ hörte Tiberius einen Diener des Obersten Priesters rufen und sah, wie er gleichzeitig auf Jesus zuging.

Und gerade, als der ihn packen wollte, schlug ihm einer der Jünger mit voller Wucht ein Ohr ab … ‚beim Jupiter!‘ Mit einem Mal griffen Tiberius und alle Soldaten nach ihren Schwertern und gingen auf die Jünger los … und die Situation wäre mit Sicherheit eskaliert, wenn Jesus nicht gerufen: „Hört auf!“ … und alle Anwesenden wie vom Blitz getroffen innehielten.

„Steck dein Schwert wieder zurück an seinen Platz.“, hörte Tiberius Jesus zu seinem Jünger sagen: „Denn alle, die zum Schwert greifen, werden auch durch das Schwert umkommen. Weißt du nicht, dass ich meinen Vater um Hilfe bitten kann? Dann schickt er mir sofort mehr als zwölf Legionen Engel. Aber wie kann sich dann erfüllen, was in den Heiligen Schriften steht? Es muss alles so kommen.“

‚Es muss alles so kommen?‘ Tiberius wusste nicht, wie ihm geschah: „Ist der Mann irre? Glaubt er wirklich, dass er der Sohn Gottes ist? Weiß er überhaupt, was die Israeliten mit ihm anstellen wollen? Was hat er davon, sich verhaften und sogar verurteilen zu lassen?“

Und während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, sah er, wie sich Jesus zu dem blutenden Soldaten beugte, ihm in die Augen sah, seine Hand ein sein Ohr hielt. Und Tiberius ließ vor Schreck sein Schwert fallen, als er wenig später sah, dass der Soldat sein Ohr zurück hatte …

Was danach passierte, nahm Tiberius nur noch wie benommen wahr. Das einzige, woran er sich noch erinnern konnte, als er sich Stunden später in sein Bett fallen ließ, waren einige tumultartige Szenen im Garten Getsemani und im Haus des Obersten Priester, wohin sie Jesus überführt hatten. Den Rest der Nacht ließ ihn eine Frage nicht los: „Wieso lässt sich ein Mensch von seinen eigenen Landsleuten verleumden, anspucken, schlagen, ohne sich zu wehren, vielleicht auch, ohne etwas angestellt zu haben? Und wie konnten ihn seine Jünger bloß in dieser schweren Lage im Stich lassen?“

Obwohl er den Tag frei hatte, machte sich Tiberius am nächsten Morgen auf, um nach dem Rechten zu sehen – auch in der Hoffnung, dass die Anhänger von Jesus seine Freilassung erwirkt hätten. Nachts hatten sie keine Möglichkeit, zu reagieren, aber der Tag sollte ihnen die Chance zur Verteidigung bieten.

Tiberius war überrascht, als er hörte, dass die führenden Priester Jesus zu Pilatus bringen ließen. Aber was er dort erlebte, ist mit dem Wort „Überraschung“ nicht zu beschreiben … es riss ihm den Boden unter den Füßen weg, als er schon von weitem das ganze Volk mit einer Stimme schreien hörte: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“

Dass die geistlichen Führer diesen Kerl loswerden wollten, konnte sich Tiberius noch erklären. Aber hatte nicht die breite Masse ihn noch wenige Tage zuvor mit „Hosianna“ begrüßt? Und jetzt wollten sie, dass er stirbt?

Tiberius kannte diesen Jesus nicht, aber mit jedem weiteren fragwürdigen Geschehen an diesem Tag wurde ihm klarer und klarer, dass hier etwas gehörig aus den Fugen geraten war.

Er fühlte sich in seiner Ehre verletzt, als das Volk Pilatus dazu nötigte, Barabbas statt Jesus freizugeben – immerhin hatte es Monate gedauert, diesen miesen Verbrecher zu fassen. Und der sollte jetzt wieder auf freien Fuß kommen, während Jesus, von dem man nur Gutes gehört hatte, gegeißelt und gekreuzigt werden sollte?

Als Pilatus der Forderung des Hohen Rats nachgab, kochte Tiberius innerlich – er wusste, was für sadistische Spielchen seine Kameraden mit Verurteilten spielen konnten. Und obwohl er selbst so oft dabei war, wurde ihm schlecht, als er sah, mit welcher Freude sie ihm eine Dornenkrone aufsetzten, ihn mit einem Rohr verprügelten und mit Geißelhieben eindeckten.

Tiberius wäre am liebsten einfach nach Hause gegangen, aber er konnte nicht. Nicht, ohne eine Antwort zu bekommen. Eine Antwort auf die Frage, wieso sich dieser Jesus nicht wehrte … wieso er niemanden beschuldigte … wieso er seinen blutverschmierten Körper zusammen mit dem Kreuz rauf zur Schädelstätte trug, als ob er nie woanders hin wollte!?

Und je länger Tiberius das Treiben beobachtete, desto mehr dämmerte ihm: Dieser Mensch ist freiwillig hier. Er hat sich diesen Weg freiwillig ausgesucht. ‚Wieso?‘

Es zerriss Tiberius fast das Herz, als er Jesus rufen hörte „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“, nachdem die Soldaten ihn gerade ans Kreuz genagelt hatten.

Und als sich wenige Stunden später die Sonne verfinsterte, die Erde bebte und Jesus mit den Worten „Es ist vollbracht! Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ starb, hatte Tiberius verstanden.

Sein Blick fiel auf seinen Hauptmann, der dem Kreuz von Jesus gegenüberstand. Er hörte ihn murmeln: „Dieser Jesus ist wirklich Gottes Sohn gewesen.“

Ja, nickte Tiberius. Das ist es. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen … und ist doch wie ein Verbrecher gestorben. Und das nicht wegen all der Leute, die ihn an diesem Tag ans Kreuz nageln ließen. Nein! Sondern weil er, Tiberius, nicht wusste, was er tat. Weil er nicht besser war als die anderen. Weil er unzählige Male vor Gott gesündigt hatte, weil er von sich aus nie zu Gott hätte kommen können, hat sich Gott in diesem Jesus auf den Weg zu ihm gemacht.

Und es huschte ihm über die Lippen: „Wahrlich, das ist wirklich Gottes Sohn gewesen!“


Titelbild: Unsplash.com

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