Stille Zeit bis zur Erschöpfung?
„Heute schon in der Bibel gelesen?“, werde ich manchmal gefragt. „Nein“, antworte ich dann wahrheitsgemäß, verrate aber meist nicht, dass ich das eigentlich auch nicht jeden Tag mache. Natürlich finde ich es gut, den Tag mit einem Wort aus der Bibel zu beginnen, vielleicht ein „Motto“ für den Tag zu finden. Allerdings ist mir persönlich das nicht so wichtig. Bin ich deshalb weniger fromm?
Der große Reformator Martin Luther hatte als Mönch die Stundengebete im Kloster so sehr verinnerlicht, dass er sie auch nach seinem Abschied vom Mönchtum beibehielt. Er hielt an ihnen fest – trotz seines mehr als gut gefüllten Tagespensums mit Übersetzung der Bibel ins Deutsche und mit dem Schreiben von Stellungnahmen und Briefen. Wenn er es nicht schaffte, bemühte er sich darum, das Verpasste am Wochenende nachzuholen – bis zur völligen Erschöpfung. Für ihn war das intensive Lesen und Nachdenken über die biblischen Aussagen sowie das Gebet wesentlicher Bestandteil von Theologie.
Man kann sagen, dass Luther insofern mit seiner starren Praxis gescheitert ist, als dass sie nicht mehr in seinen veränderten Alltag hineinpasste. Auch wenn er versuchte, sie in der alten Form aufrecht zu erhalten. Ich denke, Gott will ganz gewiss nicht, dass wir bis zur Erschöpfung eine bestimmte Frömmigkeitspraxis durchziehen. Schließlich geht es nicht darum, Gott zu beeindrucken, ihm etwas zu beweisen oder ihm einen Gefallen zu tun, sondern in Beziehung mit ihm zu leben.
Zeit zur Beziehungspflege
Beziehung lebt von Gespräch, Kontakt, innerer Verbindung. Das gilt nicht nur für Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch zwischen Gott und mir. Ich brauche das Gespräch mit Gott – und ich bin sicher, er freut sich, wenn ich ihn anspreche. Wenn es zeitlich funktioniert, lese ich morgens bei einer guten Tasse schwarzen Tees den vorgeschlagenen Bibeltext, denke darüber nach und bete. Ich sage Gott, was mir auf der Seele brennt, worüber ich mich total freue, was mir Angst macht oder mich ärgert. Das tut mir gut. Ich will wissen, welche Gedanken Gott hat: über mich, über den unfreundlichen Mann in unserer Straße, über die Welt, über …. Und ich brauche Gottes Ermutigung und Trost. In alldem ist die Bibel eine wahre Fundgrube und es lohnt sich, sie intensiv und regelmäßig zu lesen.
Aber oft genug funktioniert das nicht. Ich muss nicht sklavisch von sechs Uhr bis sechs Uhr dreißig meine Stille Zeit abhalten – womöglich total müde, gehetzt und mit den Gedanken bei den anstehenden Tagesaufgaben. Ich darf „meine Art“ finden, Bibel zu lesen, zu beten und so mit Gott in Verbindung zu bleiben. Vielleicht habe ich eine ruhigen Zeitraum am Abend dafür. Vielleicht will ich mir lieber an Tagen, an denen ich frei habe, viel Zeit für das Bibelstudium nehmen.
Luther als digital Native?
Luther hat bei seiner Bibelübersetzung „den Leuten aufs Maul geschaut“. Es war ihm wichtig, dass die „theologischen Laien“ seiner Zeit – also die Menschen auf der Straße – die Bibel in ihrer Sprache lesen und verstehen konnten. Er hat sich sehr viel Mühe gegeben, die biblischen Texte in den damaligen deutschen Wort-Sinn zu übersetzen.
Manchmal frage ich mich, welche Worte er wohl heute bei seiner Übersetzung wählen würde. Ich kann mir gut vorstellen, dass er begeistert alle Medien, die uns heute zur Verfügung stehen, einbeziehen würde … immer in der Absicht, dass alle die Bibel lesen und verstehen können.
Welche Bibelübersetzung spricht mich am ehesten an? Welche Form? Letztes Jahr hatte ich mir eine Bibellese-App heruntergeladen. Der Clou für mich war, dass ich mir sowohl den Bibeltext wie auch die Erklärung dazu vorlesen lassen konnte. Gerade morgens, wenn meine Ohren offensichtlich früher wach sind als meine Augen, fand ich das genial.
Eine neue „Stille Zeit“?!
Was wäre für dich passend? Möchtest du zusätzliche Infos über die biblischen Orte, den historischen Kontext, zusätzliche Erklärungen für schwierige Stellen? Für all das gibt es Bibelausgaben in gedruckter oder digitaler Form, die helfen, einen leichteren Zugang zu den Texten zu bekommen.
Und was das Gebet betrifft: Das geht immer! Dazu brauche ich nicht zwingend gefaltete Hände. Oft rede ich mit Gott ohne die aufgeschlagene Bibel vor mir: während meiner Arbeit, bei einem Gespräch, wenn ich etwas Tolles erlebe, wenn ich an einen Menschen denke, dem es schlecht geht. Auf diese Weise bin ich immer wieder in Kontakt mit meinem himmlischen Papa.
Zurück zum Anfang: Natürlich hängt die Qualität meiner Frömmigkeit nicht von einer starren Frömmigkeitspraxis ab. Ich darf „meine“ Praxis finden. Es geht um meine Beziehung zu Gott, zu Jesus Christus. Es geht darum, immer mehr nach Gottes Sinn, nach seinem Herzen zu leben. Dazu muss ich wissen, was Gott will – das erfahre ich in der Bibel – , aber ich brauche auch Gottes Geist, damit ich nicht nur Paragraphen und Gebote „abhake“, sondern mein Herz mit Gottes Liebe ausgefüllt wird und ich von dieser Basis aus leben kann.
Ingrid Boller
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