Eine Geschichte, die unter die Haut geht

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Rachel ist eine Frau mit einer bewegenden Lebensgeschichte. Warum sie trotz all der furchtbaren Dinge, die sie erlebt hat, immer noch Lächeln kann und sogar mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit geht, das hat sie Klartext verraten.

Klartext: Rachel, du wurdest als Kind mehrfach sexuell missbraucht. Welche Erinnerungen hast du, von denen du uns erzählen möchtest?

Rachel: Der Missbrauch geschah an den Wochenendbesuchen bei meinem Vater. Es gab dort einen Mann, der mich missbrauchte. Erinnerungen daran hatte ich erst mal überhaupt keine. Ich erinnere mich an keine Geburtstage, keine Weihnachtsfeiern, einfach an gar nichts, was vor meinem 8. Lebensjahr stattfand. Das liegt an der dissoziativen Amnesie, an der ich leide. Mein Gehirn verschließt die traumatischen Erlebnisse meiner Kindheit vor mir – zu meinem eigenen Schutz. Es ist so, als ob ich vor meinem 8. Lebensjahr gar nicht existiert hätte. Die meisten bruchstückhaften Erinnerungen kamen erst in meinen frühen 20er Jahren wieder. Manche kommen von alleine, andere werden durch bestimmte Trigger wie Gerüche, Geschmacksrichtungen oder Geräusche ausgelöst. Die erste nicht verdrängte Erfahrung, die ich habe, war mein Selbstmordversuch mit 8 Jahren.

Klartext: Wieso hast du deinen Eltern damals nicht von dem Missbrauch erzählt?

Rachel: Gerade weil mir die Erinnerungen an diese Zeit fehlen, kann ich nicht genau sagen, weshalb ich damals nichts erzählt habe. Ich vermute, dass es an der schwierigen Beziehung zu meiner Mutter lag. Ich habe ihr niemals vertraut. Jahre später fand ich heraus, dass ich sie immer angefleht habe, nicht zu meinem Vater gehen zu müssen. Sie dachte aber, dass ich einfach meine Stiefmutter nicht mögen würde und hat mich deshalb trotzdem hingefahren. Meine Mutter musste damals selbst Traumatisches durchmachen. Ich glaube nicht, dass sie in der Lage war, zu verstehen, was da mit mir passierte. Bereits in der dritten Klasse hatte ich Sex mit meinen Freunden, dachte aber, dass das normal sei. Ich wusste nicht, dass es da etwas zu erzählen gibt. Deshalb konnten meine Eltern auch nicht reagieren. Es gab aber andere Signale dafür, dass etwas mit mir nicht stimmte. So habe ich mir zum Beispiel meine Haare büschelweise ausgerissen und dann gegessen. In der zweiten Klasse malte ich unangemessene Bilder, woraufhin mein Lehrer das Jugendamt informierte. Meine Mutter gab mich daraufhin in Behandlung, was ich ihr positiv anrechne.

Klartext: In dieser schrecklichen Zeit bist du auch Gott zum ersten Mal begegnet. Wie sah diese Begegnung aus?

Rachel: Als ich neun Jahre alt war, bekam meine Mutter einen Anruf von einem Bekannten, der unbedingt vorbeikommen und für meinen Schutz beten wollte. Das tat er dann auch. In der darauffolgenden Nacht wachte ich plötzlich auf, weil ich seltsame Geräusche hörte. Von meinem Türrahmen aus konnte ich direkt in das Schlafzimmer meiner Mutter sehen. Ein nackter Mann lag auf ihr. Er bemerkte mich erst nach einer Weile, drehte sich zu mir um und schaute verschreckt über mich. Dann rannte er vollkommen verängstigt nackt weg. Später erzählte mir meine Mutter, dass der Einbrecher sie schon eine Weile lang gestalkt habe und einiges über ihre Familie und ihren Tagesablauf wusste. Als sie aufwachte, habe der Mann bereits nackt auf ihr gelegen und damit gedroht, ihre Kinder zu töten, wenn sie nicht leise wäre. Ihr einziger Gedanke sei gewesen, Gott um Hilfe zu bitten. Als ich dann im Türrahmen stand, sah meine Mutter über mir ein sehr helles Licht. Vor diesem Licht muss der Mann wohl weggerannt sein. Von da an wusste ich, dass es etwas Größeres gibt. Ich wusste zwar noch nicht, was oder wer das war, und hatte auch keine Lust, damit in Kontakt zu treten, wusste aber, dass es uns beschützt hatte. Heute weiß ich:

Gott hatte einen Engel geschickt. Gott zeigte mir damals, dass es ihn gibt.

Danach gelang es mir nie wieder, an seiner Existenz zu zweifeln, wie sehr ich es auch versuchte.

Klartext: Sexueller Missbrauch, Kriminalität, Armut, Scheidung deiner Eltern und der Tod deines Vaters, als du zehn Jahre alt warst. Wie hat das alles deine Entwicklung als Kind geprägt?

Rachel: Da ich weder eigene Erinnerungen an unser Zusammenleben als Familie noch an die Trennung meiner Eltern oder an meinen Missbrauch habe, ist das schwer zu sagen. Auf jeden Fall aber negativ! Von der Kriminalität in meiner eigenen Familie erfuhr ich erst im Nachhinein – genauso auch von dem Missbrauch meiner Mutter durch meinen Vater. Weil ich so verhaltensauffällig war, glaubte meine Mutter, ich hätte wahrscheinlich mitbekommen, wie mein Vater meine Mutter missbraucht hat oder wie mein Bruder missbraucht wurde. Sie hat deshalb keinen Rückschluss gezogen, dass ich auch selbst betroffen war. Als ich schließlich herausfand, was mein Vater meiner Mutter angetan hatte, begann ich, ihn dafür zu hassen; und auch dafür, dass er nach der Scheidung meinen geliebten Bruder, der mein bester Freund war, entführte. Als mein Vater dann gestorben war, hatte ich ihn endlich wieder. In Bezug auf den Tod meines Vaters fühlte ich eine seltsame Mischung aus Anteilslosigkeit und Freude. Dadurch, dass ich selbst auch kriminell wurde, konnte ich aber später eine Art „Verbindung“ zu meinem Vater aufbauen. Ich wusste, dass ich das Lügen, Stehlen und Manipulieren von ihm geerbt hatte – darauf war ich irgendwie stolz. Ebenfalls stolz war ich auf die Verbindung meiner Großeltern väterlicherseits zu den Hells Angels. Ich stand bis zu meinem 18. Lebensjahr unter ihrem Schutz. Wollte ich zum Beispiel, dass sie jemandem das Knie brachen, haben sie das gemacht – diese Macht liebte ich.

Klartext: Wie bist du dann zum Glauben gekommen? Was hat sich damit verändert und womit hattest du Schwierigkeiten?

Rachel: In der 12. Klasse lud mich eine Freundin zu einem Universitäts-Gottesdienst ein. Ich ging wegen der älteren Jungs hin und bin auch wegen ihnen, der wunderschönen Gospelmusik und den Keksen jede Woche wiedergekommen. Nach einigen Monaten merkte ich, dass ich das, was ich in den Liedern sang, eigentlich auch alles glaubte, jedoch nicht lebte; ich hatte noch keine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Ich wusste aber, dass sich das ändern musste. Das einzige, was sofort nach meiner Bekehrung einsetzte, war ein überwältigendes Gefühl von Leichtigkeit. Eigentlich hatte ich aber erwartet, dass der Heilige Geist mir ab sofort immer zeigen würde, was richtig und was falsch ist, aber so ist das nicht gewesen. Ich hatte auch weiterhin Sex und habe gestohlen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Und weil ich kein schlechtes Gewissen hatte, dachte ich, dass das wohl auch als Christ so in Ordnung sei – das war alles noch, bevor festgestellt wurde, dass ich unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leide. Beim Bibellesen habe ich dann aber verstanden, dass beispielsweise Stehlen nicht gut ist und habe damit aufgehört. Für mich war das sehr herausfordernd, weil die Kriminalität und Sex – auch vor der Kamera – einen so großen Platz in meinem bisherigen Leben eingenommen hatten.

Klartext: Du besuchst zusammen mit einer christlichen Initiative regelmäßig Frauen in einem Bordell in Köln. Was ist deine Motivation? Glaubst du, dass es generell einen Zusammenhang zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und Prostitution gibt?

Rachel: Weil ich selbst früher Prostituierte werden wollte, fühle ich mich wie zu Hause im Bordell. Ich möchte die Frauen dort ermutigen und in ihnen eine Leidenschaft für etwas wecken – ein Hobby, einen Traum, eine Alternative für das Prostituiertendasein. Die meisten von ihnen haben sich nämlich  längst aufgegeben. Sie arbeiten, essen und schlafen ein bisschen – das war’s! Die lesen keine Bücher oder so. Ich möchte, dass diese Frauen wissen, dass sie wertvoll sind und Gott sie liebt. Egal, was sie gemacht haben oder was ihnen zugestoßen ist. Einen Zusammenhang zwischen Missbrauch und Prostitution gibt es definitiv. Nicht jedes missbrauchte Kind prostituiert sich später, aber sehr oft sind Prostituierte als Kind missbraucht worden. Sowohl missbrauchte Kinder als auch Prostituierte leiden oft unter einer posttraumatischen Belastungsstörung durch das, was sie erlebt haben beziehungsweise immer noch erleben. Allerdings denken Prostituierte leider häufig, sie hätten nicht das Recht, Scham zu empfinden, da sie sich ja „freiwillig“ zum Sex bereiterklären und auch noch Geld dafür bekommen würden. Und auch die Gesellschaft übersieht leider insgesamt, wie traumatisch die Erfahrungen der Prostituierten wirklich sind.

Klartext: Du gehst mit deiner Erfahrung auch an die Öffentlichkeit. Was gibt dir den Mut dazu und was ist deine Motivation dabei?

Rachel: Auch ich hätte vor 10 Jahren noch nicht öffentlich über diese Erfahrungen sprechen können. Ich musste erst an ihnen arbeiten und bin auch heute noch nicht komplett geheilt. Aber ich kann jetzt zumindest darüber sprechen. Es gibt sie immer noch, Dinge, die so schlimm für mich sind, dass ich noch nicht darüber sprechen kann. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich mir damals jemanden gewünscht hätte, der selbst so etwas erlebt hat und mir Mut gemacht hätte, weiterzumachen. Jemanden, der meinen Schmerz verstanden hätte. So jemand möchte ich jetzt für andere sein.

Klartext: Wie hat die Geburt deines ersten Kindes dein Leben verändert?

Rachel: Die Geburt meines ersten Kindes veränderte alles! Vorher hatte ich große Todessehnsucht. Ich habe zum Beispiel für Krebs gebetet, bin absichtlich in gefährlichen Gegenden spazieren gegangen oder einfach so auf die Straße gelaufen, in der Hoffnung, mich überfährt vielleicht ein Auto. In der Schwangerschaft gab es dann aber einen Moment, in dem ich verstand, dass, wenn ich sterbe, auch mein Kind sterben wird. Dieser Gedanke vertrieb die Todessehnsucht. Ich bete nun schon seit fast 13 Jahren nicht mehr dafür, dass Gott mich tötet. Auch wenn ich jetzt schwierige Zeiten durchmache und keine Kraft mehr zum Leben habe, erinnere ich mich daran, dass meine Kinder eine Mutter brauchen und lebe weiter.

Klartext: Du dienst Gott und deinen Mitmenschen durch Tanz und Gesang – erzähl uns davon!

Rachel: Zusammen mit meinem Mann leite ich den Lobpreis in unserer Gemeinde. Durchs Singen komme ich Gott sehr nah. Das ist für mich immer ein sehr intimer Moment. Egal, wie schlecht es mir geht:

Wenn ich singe, bin ich Gott so nah, dass ich das alles vergessen kann.

Wenn ich einen Tanz choreographiere, hat es immer etwas mit dem Kampf nach Freiheit zu tun – Freiheit von schlimmen Erfahrungen oder den Lügen, die wir über uns selbst glauben.

Klartext: Welchen Tipp würdest du Mädchen und Frauen geben, die Missbrauch erlebt haben?

Rachel: Es ist wichtig, es jemandem zu erzählen. Das alleine durchzustehen, ist unfassbar schwer. Wenn du keinen Erwachsenen hast, dem du vertraust, dann wende dich an eine Freundin oder an einen Therapeuten. Es gibt auch Online-Support-Gruppen. Wenn du in eine Gemeinde gehst, dann kannst du dich an den Pastor dort wenden.

Klartext: Und was ist mit der Polizei?

Rachel: Stimmt, die gibt es auch. Aufgrund meiner Vergangenheit denke ich nie zuerst an die Polizei. (Rachel lacht.) Klar, der Täter sollte aufgehalten werden, aber ich kenne fast niemanden, der das so macht. Die Scham ist einfach zu groß. Man muss sich dann ärztlichen Untersuchungen unterziehen und der Polizei alles im Detail erzählen. Das ist so, als ob man das alles noch einmal erlebt. Auch der ganze Rechtsprozess ist sehr demütigend und traumatisch für das Opfer. Die Ausnahme ist, wenn der Täter jemand vollkommen Fremdes ist. Dann gehen die Frauen schon zur Polizei. Aber leider findet der Missbrauch meistens durch jemanden statt, den das Opfer kennt.

Klartext: Vielen Dank, Rachel, dass du mit uns deine bewegende Geschichte geteilt hast. Wir wünschen dir und deiner Familie alles Gute und viel Segen!

Rachel (42), gebürtige Amerikanerin, seit 2007 Missionarin in Deutschland, verheiratet mit Dave (44), Mutter dreier Kinder (12, 9 und 7). Sie tanzt und singt professionell für Gott und setzt sich leidenschaftlich für Frauen im Rotlichtmilieu ein. Wenn du mehr über Rachel erfahren möchtest, dann folge ihr auf Facebook (Rachel Rebekah) oder bei Instagram (rachelrebekah5).

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